Das gute Leben

Philosophie zwischen Kant und Chaos

von Phil Baum


Zeit und Zauberberg

Thomas Mann (1875 - 1955) hat mit dem Zauberberg ein Buch geschaffen, das mich von den ersten Zeilen an in seinen Bann gezogen hat. Bisher hatte ich nur von ihm gehört, dem scheinbar besten deutschen Autor, dem Nobelpreisträger für Literatur, dem der Sätze über ganze Seiten verschachtelt. Abgeschreckt hat mich die gewaltige Anzahl der Seiten. Irgendwann wollte ich es, nach der vielen Lobpreisung, nun doch selbst wissen und begann den Zauberberg zu lesen. Die Faszination war geweckt und damit ich die langen Sätze Manns unterwegs und bei der Arbeit weiter genießen konnte, kaufte ich auch das Hörbuch.

Heutzutage würde man sagen, dass der Zauberberg eine coming-of-age Geschichte ist. Der junge Hans Castorp besucht, nach Abschluss der Schule und vor Beginn seiner Laufbahn als Schiffsbauingenieur, seinen Cousin Joachim Ziemßen der aufgrund einer Lungenkrankheit einige Monate auf einem Sanatorium in den Bergen von Davos (Schweiz) verbringt. Die gute Höhenluft, die täglich bei den mehrstündigen Liegekuren aufgenommen wird, soll zur Genesung führen. Es beginnt sich eine Geschichte zu entfalten, die ich so nicht erwartet habe. Interessante, liebenswürdige und zuweilen auch nervige Charaktere werden ein- und ausgeführt, manchmal ist man froh, wenn sie gehen, meistens traurig. Ohne zu viel zu spoilern – denn ich kann jeder und jedem nur ans Herz legen, diesen Roman selbst zu lesen – kann gesagt werden, dass Hans Castorps Aufenthalt sich von einem kurzen Besuch des Cousins zum eigenen mehrjährigen Genesungsaufenthalt verwandelt. Castorp widmet sich in dieser Zeit neuen Hobbys wie der Biologie von Mensch und Tier und dem Skifahren, er probiert sich aus. Er wird fasziniert vom Tod, besucht Sterbende und Gestorbene und natürlich verliebt er sich auch – in die schöne, verheiratete Russin Clawdia Chauchat. Der Roman ist reich an gesellschaftlichen und philosophischen Themen, über die man seitenweise Essays schreiben könnte.

Das Thema, welches mich am meisten fasziniert hat und mit dem Castorp seine Emanzipation startet, ist: die Zeit. Schon als Kind habe ich darüber gegrübelt, wie “das Jetzt” funktioniert. Den genauen Zeitpunkt des “jetzt” kann man weder aussprechen noch denken, “jetzt” ist immer schon Vergangenheit in dem Moment, wo es gedacht wird. Gibt es überhaupt ein jetzt? Als Castorp im Zauberberg ähnlich – in Manns Worten jedoch deutlich schöner – über die Zeit sinniert, fühlte ich mich einem Roman nah wie lange nicht mehr. Die Relativitätstheorie zeigt, dass Zeit relativ zum Beobachter ist. Das bedeutet, dass das Jetzt subjektiv ist, der Moment, den ich als jetzt erlebe, der Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, ist für jemanden, der sich im Basecamp des Mount Everest befindet zu einem minimal anderen Zeitpunkt, denn die Allgemeine Relativitätstheorie besagt, dass die Zeit in einem schwächeren Gravitationsfeld, wie in der Höhe des Mount Everest, welcher weiter vom Kern der Erde entfernt ist als ich in Stuttgart, schneller vergeht. Das bedeutet ebenso, dass für meine Freundin, nur ein Zimmer weiter, wenn auch nur unvorstellbar klein, dasselbe gilt, denn wir halten uns nicht am exakt gleichen Punkt der Raumzeit auf. Dass Sie und ich uns kein jetzt teilen erklärt, warum wir uns das ein oder andere Mal uneinig darüber sind, ob die Wohnung gesaugt werden muss oder nicht.

In Davos übt Castorp ähnliche Überlegungen und spürt selbst, wie die Routine des monotonen Alltags dafür sorgt, dass die Zeit gefühlt schneller vergeht. Jeder Tag ist gleich: Aufstehen, Fiebermessen, Frühstück, Liegekur und so weiter. Widerspiegelnd erzählt Mann die ersten Wochen von Castrops Aufenthalt sehr detailreich, während in den späteren Jahren nur noch Episoden aus Castorps Leben geschildert werden. Auch dies ist etwas, das sich mit meinen eigenen Erfahrungen deckt. Je älter ich werde, desto schneller vergeht die Zeit (gefühlt). Als Schüler kamen mir sechs Wochen Sommerferien wie eine Ewigkeit vor, heutzutage vergeht die Zeit zwischen zwei Ferienblöcken wie im Flug. Ein Grund dafür liefert die Psychologie: Unser Gehirn speichert neue Erlebnisse detailreicher ab als bekannte. In der Kindheit und Jugend erleben wir ständig neues, was zu Ankern in unserem Gedächtnis führt, an die wir uns heutzutage noch erinnern können. Als Erwachsener erleben wir meist weniger Neues, denn der Arbeitsalltag und die Organisation des eigenen Lebens, die als Kind zum Großteil die Eltern übernehmen, ist vorhersehbar und passiert, ohne viel Neues zu erleben. Das führt zum subjektiven Empfinden, dass die Zeit früher langsamer verging, denn da haben wir deutlich mehr erlebt und mehr Erinnerungen an Erlebtes.

Ein letzter Aspekt der Zeit, über den Hans Castorp ebenso wie wir sinniert, ist die Endlichkeit. Castorp entwickelt eine Faszination für den Tod, also das Ende eines Menschen. Initiiert von Dr. Krokowski, einem Psychoanalytiker, beginnen die Patienten auf dem Zauberberg spirituelle Sitzungen zu halten, in denen sie versuchen, mit den Toten zu kommunizieren. Castorp kann überzeugt werden teilzunehmen und alsbald erscheint ihm ein toter Verwandter, doch es scheint so, als würde Castorp diesen Spuk durchschauen und bricht die Sitzung ab. Für Sympathisanten eines materiellen Weltbildes (wie mich) steht fest, dass der Mensch mit dem Tod endet. Der Mensch ist nur sein Körper, das Ende seines Körpers bedeutet das Ende seines Seins. Wo der Körper zuvor aktiv am Nahrungsnetz der Erde mitgewirkt hat und Teil des Energieflusses war, wirkt er tot nur noch passiv mit, bis die Materie des Körpers vollständig recycelt wurde. Das Anrufen der Toten in spirituellen Sitzungen erfordert einen Glauben an das Fortbestehen der Seele – in welcher Form auch immer. Wir können nur mutmaßen, denn Mann klärt es nicht auf, aber nach all seinen Forschungen zum Tod scheint sich Castorp am Ende dieser Meinung anzuschließen, denn er besuchte nie wieder eine der mystischen Sitzungen.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endet Hans Castorps Aufenthalt im Zauberberg, wie auch der vieler seiner Mitkranken, die aufgrund des Krieges in ihre Heimatländer zurückkehren. Thomas Mann nennt das Ereignis den “Donnerschlag” und leitet mit ihm das Ende des Romans ein, welches das beste Romanende ist, das ich je gelesen habe.

Quellen